Work-Life-Balance ist nach wie vor eines der Buzz-Words in Stellenanzeigen und im Employer Branding. Gemeint ist, ganz einfach gesagt, das Versprechen, dass der Arbeitnehmer neben der Arbeit auch noch ein Leben haben werde. Klassische Work-Life-Balance-Maßnahmen sind zum Beispiel Sport- und Ernährungsangebote, flexible Arbeitszeiten oder Angebote zur Kinderbetreuung. Was für viele ein verlockendes Versprechen ist, halten wir für einen falschen Denkansatz. Nicht, weil das Leben außer Arbeit nicht noch andere Dinge bereithielte, auch nicht, weil wir die oben genannten Maßnahmen als überflüssig erachten (eher als mittlerweile selbstverständlich), sondern, weil wir die in dem Begriff enthaltene Trennung von »Leben« und »Arbeit« für nicht (mehr) erstrebenswert halten.
Was ist hier eigentlich womit in Balance?
»Arbeit« und »Leben« in Balance zu halten, setzt rein logisch betrachtet voraus, dass Leben und Arbeit zwei verschiedene Dinge sind. Leider wird es so auch von vielen Arbeitnehmern gesehen. Arbeit abzulehnen steckt tief im kollektiven Unterbewusstsein. Als Beleg reicht es etwa, einfach einmal am Montag Morgen das Radio einzuschalten oder sich durch den eigenen Facebook-Stream zu wühlen. Montags ist der Tenor: »Oh mein Gott, schon wieder Montag.« Montag der Dreizehnte ist der Unglückstag des faulen Katers Garfield. Freitags dann das entgegengesetzte Bild: »Endlich wieder Freitag, Wochenende, jippie!« Arbeit ist die unangenehme Tätigkeit von Montag bis Freitag, während das Wochenende »das Leben« ist. Genauso verhält es sich mit Urlaub.
Gary Keller und Jay Papasan stellen in ihrem Buch »The One Thing« den Begriff Balance selbst in Frage:
»Ständig hören wir von einem Leben im Gleichgewicht, sodass wir irgendwann automatisch davon ausgehen, dass das erstrebenswertes Ziel ist. Das stimmt aber nicht. Lebenszweck, Lebenssinn, Bedeutung – das sind die Dinge, die ein erfolgreiches Leben ausmachen. Wenn Sie diese Dinge verfolgen, wird Ihr Leben höchstwahrscheinlich unausgewogen sein und Sie werden bei der Verfolgung Ihrer Prioritäten ständig im Auf und Ab eine unsichtbare Mittellinie kreuzen. … Zeit für eine Sache bedeutet keine Zeit für eine andere Sache. Und das macht Ausgewogenheit zu einem Ding der Unmöglichkeit.«
Für mich persönlich ist der Begriff vollkommen unpassend, da Arbeit ein fester und definierender Teil meines Lebens ist. Ich brauche keine Balance zwischen Arbeit und Leben, da mein Leben zu einem gewichtigen (und erfüllenden!) aus Arbeit besteht. Das ist so ähnlich, als würde ich Breath-Life-Balance anstreben oder Food-Life-Balance. Im Begriff Work-Life-Balance steckt die Annahme, dass Arbeit und Leben nicht nur zwei getrennte Dinge sind, sondern sogar zwei gegensätzliche Dinge, die miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. Nichts könnte falscher sein.
Das Leben der Menschen bestand für den größten Teil der Menschheitsgeschichte aus Arbeit. Jäger und Sammler waren eigentlich nur damit beschäftigt, zu jagen, zu sammeln und den Rest der Zeit gemütlich in ihrer Höhle abzuhängen. Sie brauchten dafür aber keine »Balance«. Die Arbeit war wenig gleichförmig. Es wurde gejagt, wenn Tiere in der Nähe waren oder die Vorräte knapp. Es gab keine Hierarchien, keine angestellten Jäger und Sammler. Jeder war selbstständig und Arbeit war ein integraler Bestandteil des Lebens – Arbeit im Sinne von Anstrengung, von Tätigkeit, um das eigene Überleben zu sichern. Erst mit wachsender Arbeitsteilung, zunächst mit Ackerbau und Viehzucht, dann mit der Industrialisierung, entstand immer mehr unselbstständige Arbeit, deren Sinn nicht mehr sofort zu erkennen war und die gedanklich auch nur sehr indirekt mit dem eigenen Broterwerb in Zusammenhang gebracht werden konnte.
Macht Komfort und die Abwesenheit von Arbeit glücklich?
Hinter dem Bestreben, Arbeit und Leben in Balance zu bringen, steckt auch der Trugschluss, dass das Leben schöner, erfüllter, glücklicher wäre, wenn es weniger Anstrengung enthielte. Hier werden meines Erachtens zwei Dinge verwechselt, nämlich Komfort und Glück. Nur, weil es angenehm ist, nicht oder weniger zu arbeiten, tätig zu sein, heißt das nicht, dass das Leben dadurch glücklicher wird. Ich glaube, und neuere Forschung bestätigt das, dass das Ausüben einer sinnvollen Tätigkeit glücklich macht. Widerstände überwinden, lernen, am Rande seiner Kompetenz agieren, Risiken eingehen: Diese Dinge machen das Leben lebenswert. Und hier liegt das Problem, das Work-Life-Balance allein nicht lösen kann: Es gibt noch immer viel zu viele Jobs, in denen die Angestellten das nicht haben.
Arbeit wurde mit der Industrialisierung und fortschreitenden Arbeitsteilung in vielen Zusammenhängen zu einer sinnentleerten und vom eigentlichen Leben abgekoppelten Tätigkeit. Ich gehe in die Fabrik, schraube den ganzen Tag ein Teil an das nächste, habe keine Ahnung warum, und am Ende bin ich kaputt. Dafür bekomme ich Geld, damit ich überleben kann. Mit der Dienstleistungsgesellschaft haben sich zwar die Arbeitsumstände und der Lebensstandard der breiten Bevölkerung verbessert, nicht hingegen die oft vorherrschende Sinnentleertheit der Arbeit. Arbeit ist in vielen Fällen eben nicht Teil des Lebens, sondern ein notwendiges Übel. Am schönsten und traurigsten illustriert wird das von oben erwähnten Radiomoderatoren und Kaffeetassen-Aufdrucken, die unisono ins gleiche Horn stoßen: »Endlich wieder Freitag«, »Wochenende!«
Generation Y: Die eigene Zeit sinnvoll und nützlich einsetzen
Doch die Wahrnehmung, was Arbeit ist, und ob es wirklich eine Trennung zwischen Arbeit und Leben geben muss, ändert sich. Während die älteren Generationen diese Trennung noch als zu überwindende Herausforderung sehen, ist die Generation Y, die Generation der heute 25- bis 35-Jährigen (+/- ein paar Jahre, je nach Definition), schon einen Schritt weiter:
»Zwischen der Baby-Boomer-Generation, der Generation X und der Generation Y wurden deutliche Unterschiede in der Einstellung zu Work-Life-Balance beobachtet. Vereinfachend ausgedrückt handele es sich für Baby-Boomer um einen Balanceakt zwischen Beruf und Familie, für die Generation X seien abwechselnde Phasen von Erwerbstätigkeit und Phasen der Kindererziehung oder außerberuflicher Tätigkeiten typisch, und Angehörige der Generation Y legten weniger Wert auf eine strikte Trennung von Erwerbstätigkeit und Privatleben und zielten vor allem darauf, die eigene Zeit sinnvoll und nützlich einzusetzen.« [Quelle: Wikipedia vom 6.11.2018, Hervorhebung vom Autor]
Den Angehörigen der Generation Y (noch mehr den noch jüngeren und sicher auch älteren Mitarbeitern, wenn man ihnen diese Möglichkeit aufzeigt) geht es im Leben als Erstes um eine sinnvolle Tätigkeit. Für Arbeitgeber bedeutet das: Eine gute Work-Life-Balance gibt man seinen Mitarbeitern nicht, indem man sie mit sinnfreien Tätigkeiten auslaugt und mit Wellness-Kosmetik versucht, das zu kaschieren. Sondern, indem man ihnen sinnvolle Tätigkeiten gibt. Indem man sie entsprechend ihren Kompetenzen selbstständig und autonom arbeiten lässt. Das kann man dann zwar nicht mehr mit einem schicken Buzzword wie »Work-Life-Balance« versehen, anstrengender und aufwendiger ist es sicher auch, aber dafür macht es deine Mitarbeiter glücklich und dein Unternehmen erfolgreicher.